Zwischen Bomben, Bühne und Bunker
Von Berlin nach Kyiv
© Google Maps
1.400 Kilometer. Mit ausreichend Kaffee eine Strecke für einen Tag. Genf ist näher, Rom kaum weiter entfernt. Und doch liegt zwischen hier und dort etwas, das sich mit Zahlen allein nicht fassen lässt. Es ist nicht nur die Entfernung auf der Landkarte, nicht nur Asphalt unter den Reifen oder Stunden im Zug. Es ist die Wirklichkeit dazwischen – Grenzen, Geschichten, Erinnerungen. Menschen, deren Blick einem länger im Kopf bleibt als so manche Sehenswürdigkeit.
1.400 Kilometer – das ist der Abstand, der äußerlich so einfach zu überbrücken scheint, aber innerlich Spuren hinterlässt. Die Route mag klar sein, doch das Ziel bleibt vielschichtig. Was einen dort erwartet, ist nicht einfach ein Ankommen, sondern ein anderes Begreifen. Und so ist die Reise nicht nur eine Bewegung durch Raum, sondern auch durch Erinnerung, Hoffnung und das, was unausgesprochen zwischen den Zeilen liegt.
Rauch über der Stadt
Freitag Ankunft. Erster heißer Sommertag. Über der Stadt hängt noch der Rauch der Nacht – zurückgeblieben von einem stundenlangen Angriff Russlands mit Hunderten Drohnen und mehreren ballistischen Raketen.
Fenster sollen besser geschlossen bleiben, heißt es. Trotzdem: Autoschlangen im Berufsverkehr, geschäftiges Hupen, Menschen mit Kaffeebechern in der Hand. Der Alltag. Nur eben anders.
Leben im Ausnahmezustand
Der Krieg hat sich in die Stunden eingeschrieben, ohne die Tage ganz zu verdunkeln. Man hat sich eingerichtet. Nicht im Sinne von Bequemlichkeit, sondern im Sinn von Notwendigkeit. Resilienz ist hier kein Modewort, sondern gelebte Haltung.
Was mich bei jedem Besuch aufs Neue überrascht – und tief bewegt – ist der ungebrochene Gestaltungswille der Menschen. Trotz aller Unsicherheit, trotz der Sirenen, trotz der Gefahr: Es wird entworfen, gebaut, komponiert, gedacht. Man merkt es an den Gesprächen, an der Sprache, an der Haltung. Da ist ein Hunger nach Ausdruck, ein Stolz auf das Eigene, ein ernsthafter Wunsch, nicht nur zu bestehen, sondern etwas Schönes, Eigenständiges zu schaffen.
Kreativität als Lebenselixier
Die Cafés sind voll junger Menschen, die an Ideen arbeiten. Studios, Galerien, Start-ups – improvisiert, ja. Aber voller Energie. Es ist, als würde der Krieg nicht lähmen, sondern im Gegenteil einen Motor freisetzen. Eine innere Bestimmung, aus jeder Stunde etwas zu machen, das zählt.
Diese Art von Motivation, dieses tiefe Streben nach Zukunft, nach Erfolg, nach Bedeutung – es wirkt auf mich wahnsinnig inspirierend. Man spürt: Hier will niemand nur überleben. Hier will man leben, gestalten, verändern.
Die Frage nach dem Warum
Immer wieder wird mir die Frage gestellt – manchmal laut, manchmal nur im Unterton:
„Warum machst du das? Warum fährst du in ein Land, in dem Krieg herrscht?“
Meine Antwort ist schlicht: Weil ich sehen will, was wirklich ist. Weil ich verstehen will, wie Menschen unter diesen Umständen leben, denken, hoffen. Und weil ich glaube, dass Nähe ein besseres Bild erzeugt als Entfernung. Wer mit eigenen Augen gesehen hat, mit eigenen Ohren gehört, mit eigenen Händen gespürt, der redet anders. Weniger über Schlagzeilen. Mehr über Menschen.
Wer aus der Ferne auf all das blickt – aus einer geografisch kaum anderen, aber psychologisch fernen Perspektive – könnte versucht sein zu fragen:
„Ist da überhaupt noch Krieg?“
Die Antwort ist einfach. Ja. Es ist Krieg. Und gerade deshalb diese stille Trotzbewegung: gegen das Verschwinden des Gewöhnlichen, für ein Dasein mit Sinn, Form, Freude.
Maidan, 4. Juli 2025 | Photo: Malisa von Deylen
Lebensfreude im Schatten der Sirenen
Vielleicht ist es eine gewagte Behauptung, aber ich bleibe dabei: In der Ukraine zeigt sich Lebenswille, ja sogar Lebensfreude, in einer Intensität, wie man sie in kriegsfreien Zonen oft vergeblich sucht.
Diese Freude ist nicht laut, nicht überdreht, kein billiger Trost – sie ist konzentriert, bewusst, gewachsen unter Druck. Sie speist sich aus der Klarheit, dass jedes Fest, jede Begegnung, jeder gesungene Refrain auch der letzte sein könnte. Genau deshalb ist er voller Bedeutung. Nichts wird hier verschwendet – nicht die Zeit, nicht die Nähe, nicht das Lächeln.
Kyiv, 04. Juli 2025 | Photo: SCHILLER
Es ist eine Lebensfreude, die nicht von außen inszeniert wird, sondern von innen kommt. Kein Fluchtreflex, sondern eine Art stille Auflehnung: gegen das Verstummen, gegen das Erstarren. Man spürt sie in kleinen Gesten – in der Sorgfalt, mit der ein Kaffee zubereitet wird, in der Ruhe, mit der jemand ein Bild hängt, in der Selbstverständlichkeit, mit der Menschen füreinander sorgen.
Vielleicht liegt genau darin die größte Stärke: dass der Krieg die Menschen nicht abgestumpft hat, sondern durchlässiger gemacht – für das Schöne, für das Wahre, für das Notwendige. Was in anderen Ländern in Müdigkeit oder Ironie versinkt, steht hier aufrecht. Es ist nicht naiv, sondern entschieden. Und genau das ist es, was mich so tief beeindruckt.
Rückspiegel Deutschland
Quelle: YouTube
Wir kamen aus einem Deutschland, das sich jüngst an ein paar heißen Tagen medial wundgesendet hat. Wo Diskussionen schneller eskalieren als gelöst werden, wo sich Meinungswellen wie Hitzewellen überschlagen. Wer hat was gesagt, und wie schlimm war das? Haltung als Währung, Empörung als Geschäftsmodell.
Es ist ein Klima der Gereiztheit entstanden, in dem der Ton oft lauter ist als der Gedanke dahinter. Eine Öffentlichkeit, in der Begriffe wie „Demokratie“, „Freiheit“ oder „Verantwortung“ so häufig bemüht werden, dass sie mitunter ihre Kontur verlieren. Wo Debatten nicht mehr geführt, sondern bewertet werden. Wo der Verdacht stets mitschwingt, das Falsche zu sagen oder das Richtige nicht laut genug.
Gleichzeitig wird die eigene Komfortzone verteidigt wie eine Festung – als ginge von einem differenzierten Gedanken schon die Gefahr des Kontrollverlusts aus. Dabei gäbe es so viel zu beobachten, zu fragen, zu verstehen. Aber das kostet Zeit, Aufmerksamkeit, Bereitschaft. Und die scheinen in der Hitze des Gefechts oft verloren zu gehen.
Von dort kamen wir – und standen plötzlich hier, in einem Land, das nicht diskutiert, sondern handelt. Das nicht theoretisiert, sondern improvisiert, organisiert, durchhält. Nicht perfekt, nicht ohne Widersprüche. Aber mit einer Klarheit, die ernüchternd und bewundernswert zugleich ist.
Alarm im Backstage
Quelle: https://alerts.in.ua/en
Dann: „Let’s go into the shelter! Now!“ Olga, unsere Veranstalterin, steht plötzlich im Backstagebereich. Keine fünf Minuten mehr, sagt sie. Ballistische Rakete. Kein Spielraum für Zweifel. Kein Spielraum für Routinen.
Ich zögere. Eigentlich wollte ich nicht mitgehen. Ich hatte mich an den Alarm gewöhnt, an die Sirenen, an die App, die immer denselben Satz ausspuckt: „Don’t be careless – your overconfidence is your weakness.” Beim ersten Mal hat mich das erschreckt. Beim dritten Mal hat es mich irritiert. Beim zehnten Mal nur noch müde genervt. Irgendwann stellt sich ein merkwürdiger Fatalismus ein – nicht aus Mut, sondern aus Erschöpfung.
Aber Olga insistiert. Als Veranstalterin trägt sie die Verantwortung. Und sie bittet nicht beiläufig, sondern eindringlich. Mit einer Mischung aus Fürsorge und Entschlossenheit, der ich mich nicht entziehen kann. Also los.
Wir laufen über das Gelände. 30 Grad, flirrende Hitze. Der Boden klebt. Die Salven der Flugabwehr in der Ferne erinnern entfernt an Silvester.
Unter der Erde
Kyiv, 05. Juli 2025 | Photo: SCHILLER
Im Schutzraum – ein kühler Keller unter dem Festivalgelände – sitzen und stehen wir zusammen mit jungen Menschen, Familien, Kindern. An der Wand das WLAN-Passwort. Der Ton ist ruhig. Keine Panik. Nur Konzentration. Man kennt das. Es ist das vierte Jahr.
Drohnen kündigen sich anders an als Raketen. Langsamer, zäher, wie ein unangenehmer Gedanke, der sich nicht abschütteln lässt. Ballistische Raketen sind schneller. Und schneller vorbei – zum Guten wie zum Schlechten.
WILLKOMMEN IM GLÜCK
Photo: Malisa von Deylen
Nach dreißig Minuten gibt die App Entwarnung. Wir laufen zurück, über das staubige Gelände, vorbei an Generatoren, Kabeln, Lautsprechertürmen. Das Publikum kommt langsam wieder hervor aus den Unterständen.
Und dann: Musik. Showstart. Über 2.500 Menschen versammeln sich, um einen Augenblick zu teilen, der mehr ist als Unterhaltung. Die Sonne steht tief. Goldene Stunde. Wir lassen uns fallen, werden leicht, gemeinsam.
Es ist kurz nach sieben.
Die Sonne steht tief, als die ersten Töne erklingen. Ein goldenes Licht liegt über dem Gelände. Ich sehe in Gesichter, die nicht einfach nur zuhören, sondern aufnehmen, speichern, fühlen. Menschen, die wissen, wie flüchtig ein Moment sein kann – und ihn gerade deshalb ganz bei sich behalten.
Während ich spiele, denke ich an nichts anderes. Kein Fluchtplan, keine Angst – nur dieser eine, geteilte Augenblick. Die Musik trägt uns in die Nacht. In diesen zweieinhalb Stunden entsteht etwas, das nicht zerstörbar scheint: ein Raum aus Klang, Nähe, Mut.
Dann klingt der letzte Track. Kurz darauf wieder Sirenen, wieder dieses Grollen am Horizont, das sich nicht entscheiden kann, ob es ein Gewitter oder ein Angriff ist. Und doch: Dieser Abend bleibt. Weil er sich eingeprägt hat – nicht trotz der Bedrohung, sondern vielleicht gerade ihretwegen. Er bleibt in der Erinnerung derer, die gekommen sind, um nicht aufzugeben. Die tanzen und das Leben feiern. Die da sind. Einfach da.
Mein erster und letzter Song heute Abend: „Willkommen im Glück.“
Photo: SCHILLER